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Alt 17.02.2003, 14:35
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Timo Boll im "SPIEGEL"

Allein gegen die Armada

Ein unscheinbarer Junge aus dem Odenwald hat die Spitze der Weltrangliste erklommen. Die Chinesen, die sich als Hegemonialmacht des Tischtennis verstehen, sind beunruhigt. Ihre Stars üben jetzt mit Trainingspartnern, die Timo Bolls Stil imitieren - im Mai geht es um den Weltmeistertitel.


Timo Boll tänzelt wie ein Boxer. Leichtfüßig legt der Tischtennis-Profi ein Stakkato aufs Parkett der Trainingshalle: links, rechts, links, rechts. Die Augen verengt zu Schlitzen, den Mund offen, die Zähne gefletscht, peitscht er einen weißen Zelluloidball übers Netz: 200-mal, 300-mal, ohne Pause.

Als er an diesem Morgen schließlich eine Rückhand verschlägt, zuckt er kurz mit dem Kopf und grollt: "Ich muss den Ball früher treffen." Und danach degradiert er in einem Übungsmatch sein Gegenüber zum hilflosen Sparringspartner.

In der Ecke steht Tobias Beck, Co-Trainer des hessischen Bundesligaclubs TTV Gönnern, und wacht über seine Spitzenkraft. Beck hält die Hände wie ein Fußballer in der Freistoßmauer, ruft: "Jetzt ist das Timing perfekt!" Dann flüstert er: "Der Kerl hat die Gabe, im Spiel umzusetzen, was er im Training gelernt hat. Er ist einzigartig."

Das deutsche Tischtennis hat einen neuen Fixstern. Timo Boll, 21, Linkshänder, stammt aus Höchst im Odenwald, und er spielt ein ebenso elegantes wie druckvolles Tischtennis, dem kaum einer gewachsen ist. Experten sehen ihn als Nachfolger des genialen Schweden Jan-Ove Waldner.

Im vergangenen Jahr hat Boll vier der sechs wichtigsten internationalen Titel gewonnen. Er siegte als Debütant beim europäischen Ranglistenturnier Top 12 in Rotterdam, wurde Europameister im Einzel und im Doppel, und er holte sich den Weltcup. In der Weltrangliste schoss er von Platz 14 hoch auf Platz 1.

Da steht er seit Anfang Januar. Nie zuvor konnte ein Deutscher diese Position erobern; Eberhard Schöler war 1969 Zweiter, Jörg Roßkopf in seiner besten Zeit Vierter. Boll hat die Phalanx der Chinesen gesprengt, die als Hegemonialmacht im Tischtennis gelten.

Sein Aufstieg gleicht einem wissenschaftlichen Langzeitprojekt, denn kein deutscher Spieler wurde auf dem Weg an die Spitze derart zielgerichtet gefördert wie er. Seit sieben Jahren bildet Boll den Kern eines Teams, das eigens um ihn herum gebaut wurde.

Angefangen mit dem Tischtennis hat Boll im Alter von vier Jahren, da konnte er gerade über die Platte gucken, die daheim im Keller stand. Abends spielte er für eine Viertelstunde im Schlafanzug gegen seinen Vater. "Seine Bälle hatten bereits extrem viel Spin", erinnert sich Wolfgang Boll.

Mit sieben trat sein Sohn in den TSV Höchst ein, ein Jahr später fuhr er zum Sichtungsturnier nach Aßlar. Dort sah ihn Helmut Hampl, und der hessische Verbandstrainer wusste nach ein paar Sekunden, dass der pummelige Bursche jenes Kind war, von dem er immer geträumt hatte. "Er spielte mit wenig Kraftaufwand und erwischte den Gegner oft auf dem falschen Fuß", sagt Hampl. "Seine Bewegungen waren flüssig und akkurat."

Hampl, 50, der schon Roßkopf entdeckt hatte, wurde zum Architekten von Bolls Karriere. Er nahm sich des Hochbegabten mit einer Konsequenz an, wie es Holger Geschwindner für den Basketballer Dirk Nowitzki getan hat.

Hampl schuf das Modell Boll. Es sah vor, den Jungen nicht wie üblich ins Internat des Bundesleistungszentrums nach Heidelberg zu schicken, sondern ihn mit 14 zum TTV Gönnern zu lotsen, wo Hampl als Cheftrainer arbeitete. Der Clou dabei war, dass Boll nicht umsiedeln musste, sondern bei den Eltern wohnen bleiben konnte. Stattdessen wurden alle Mannschaftskollegen vertraglich verpflichtet, ins 170 Kilometer entfernte Höchst zu ziehen, um dort täglich bis zu fünf Stunden mit Boll zu trainieren. Das gilt bis heute, für jeden Neuzugang.

"Im Internat wäre Timo zerbrochen", glaubt Hampl. "Er ist sehr sensibel, hängt an der Familie, seinen Freunden, seinem Hund. Ich wollte ihn nicht aus diesem Umfeld reißen."

Es gab Trainer, die haben Hampl für verrückt erklärt. Rund 35 000 Euro muss der Verein im Jahr aufwenden für Mieten und Sprit, damit Boll die Nestwärme genießen kann. Aber der Erfolg gab Hampl Recht: Boll wurde mit 15 jüngster Bundesligaspieler aller Zeiten; ein Jahr später verließ er die Schule, wurde Profi.

In Gönnern, wo Boll bis Mitte 2005 unter Vertrag steht, verdient er mittlerweile jährlich rund 100 000 Euro. Er hat zwei private Sponsoren, und seit er die Weltrangliste anführt, häufen sich die Angebote.

Sportlich ist er der nationalen Konkurrenz längst enteilt. Wenn Boll nächste Woche in Bielefeld zum vierten Mal Deutscher Meister werden will, "bedeutet das für Timo bloß ein Wochenende, an dem er nicht vernünftig trainieren kann", sagt Hampl.

Mit dem Ausnahmekönner ein Gespräch über seinen Höhenflug zu führen ist nicht ganz leicht. Er sitzt im Bistro "Le Jardin", reibt sich mit den Händen die Oberschenkel, und seine beliebteste Antwort lautet: "weiß nicht". Er ist höflich, aber träge. Fast lethargisch.

Wundert er sich, wie schnell er es nach ganz oben geschafft hat? "Joohh, irgendwie schon", sagt er und klingt wie Rudolf Scharping, wenn der über den Wehretat referierte. Warum? - "Weiß nicht."

Nach den Siegen bei der Europameisterschaft stellte sein Manager einen Kontakt zu Stefan Raab her. Boll trat in dessen Blödel-Show "TV total" auf. Selten wird Raab eine Einladung inständiger bereut haben.

Jedes Theater um seine Person ist Boll peinlich. Als er mit 17 Jahren Jugend-Europameister wurde und seine Eltern ihn zu Hause mit einem Glückwunschtransparent empfingen, "da hat er mit uns geschimpft", sagt Mutter Gudrun. Und als Boll im selben Jahr zum ersten Mal die Deutsche Meisterschaft gewann, feierte er das auf seine Weise: "Ich bin heimgefahren, habe ein bisschen ferngesehen und bin früh schlafen gegangen."

Paradoxerweise ist es diese erdnahe Art, weshalb er in Asien verehrt wird wie ein Popstar. In China eskortiert ihn die Polizei ins Hotel, und Bodyguards halten ihm übermütige Fans vom Leib; in Japan klettern hysterisch kreischende Mädchen auf Bäume, um ihn durchs Fenster beim Umziehen zu beobachten.

Dabei sieht er so unauffällig aus wie ein Sparkassen-Azubi. Zum Ereignis wird der Ballartist erst, wenn er seinen Beruf ausübt: Das aggressive und kreative Spiel passt scheinbar nicht zu seinem Wesen. "Aber beim Tischtennis bin ich ein anderer Mensch", sagt Boll. "Da explodiere ich." Die Selbsterkenntnis eines Stoikers.

Boll ist äußerst nervenstark. Als er Anfang des Monats beim Top-12-Turnier in Saarbrücken seinen Titel verteidigte, lag er im Viertelfinale gegen den ehemaligen Vize-Weltmeister Jean-Michel Saive mit 0:3 Sätzen zurück. Aber er schaffte den Satzausgleich, wehrte im letzten Durchgang zwei Matchbälle des Belgiers ab und gewann.

So war er nicht immer. Bei der EM 2000 in Bremen verlor er in der dritten Runde gegen Jan-Ove Waldner, weil er unentwegt lamentierte wie ein verwöhnter Bengel. "Meine Finger sind so rutschig", jaulte er. Oder: "Ich habe kein Gefühl." Dem deutschen Publikum sind solche Auftritte vertraut - von einem greinenden Boris Becker.

Bundestrainer Dirk Schimmelpfennig nannte Boll nach der Niederlage einen "Jammerlappen". Ihm fehle der letzte Biss, er müsse härter werden.

Sein Mentor hatte die rettende Idee: Hampl holte Jörg Roßkopf nach Gönnern; der Doppel-Weltmeister von 1989 ist auch im Training bereit, sich über die Schmerzgrenze hinaus zu quälen. Er sollte Boll als Muster dienen.

Der Anschauungsunterricht wirkte. Seine "Einstellung zum Sport" habe sich verändert, bekennt Boll heute. "Ich habe verstanden, dass ich meinen inneren Schweinehund überwinden muss."

Jetzt ist es so, dass die Stärke von Boll besonders darin besteht, keine Schwäche zu haben. Er hakt Niederlagen schnell ab und ruht sich auf Siegen nicht aus. "Er ist die Schlüsselfigur im europäischen Tischtennis", sagt Chinas Chefcoach Cai Zhenhua. "Boll ist für uns eine größere Bedrohung, als es früher Waldner war."

Bolls Weltcupsieg Anfang November im chinesischen Jinan war für die Asiaten eine Demütigung. Das staatliche Fernsehen brach die Übertragung des Viertelfinals zwischen ihm und Weltmeister Wang Liqin beim Stand von 3:0 Sätzen für den Deutschen ab. Als er im Endspiel auch noch den einheimischen Olympiasieger Kong Linghui schlug, war das Sakrileg vollzogen.

Seitdem ist Boll nicht mehr der Jäger, sondern der Gejagte. Die Chinesen filmen seine Partien inzwischen und zerlegen hinterher jeden Spielzug; konstruieren am Computer Strategien, mit denen sie ihn besiegen wollen. Für die Stars wurden bereits Trainingspartner abkommandiert, die darauf gedrillt werden, Bolls Stil zu imitieren.

Die Chinesen sind eine Armada, der Deutsche ist allein. Er kann den Kampf nur gewinnen, wenn er sich regelmäßig häutet. So wie es Waldner gemacht hat. Der Olympiasieger und Ex-Weltmeister hat sein Spiel immer wieder modernisiert, hat ständig neue Schlagvarianten erfunden, seine Gegner permanent vor Rätsel gestellt.

Und darum soll Boll bis zur Weltmeisterschaft im Mai vor allem sein Repertoire erweitern. "Die Chinesen werden sich zwei Monate lang auf die WM vorbereiten", sagt Hampl. "Sie werden Timo angreifen. Darauf müssen wir vorbereitet sein."

Boll selbst scheint ungerührt. Wenn er die WM nicht gewinne, sagt er, sei das nicht weiter tragisch. "Ich bin jung, ich habe noch viel Zeit."

Er ist erst 21, und er weiß, dass sich die Europäer auch mit fast 30 noch steigern können, während die Chinesen ihre internationale Laufbahn meist schon mit Mitte 20 beenden.

Timo Boll will im Sommer 2008 seinen Zenit erreichen, denn dann finden Olympische Spiele statt. In Peking.

http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,235307,00.html
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