Einzelnen Beitrag anzeigen
  #1  
Alt 16.07.2001, 21:06
Benutzerbild von Siegmund Freud
Siegmund Freud Siegmund Freud ist offline
registrierter Besucher
Foren-Stammgast 1000
 
Registriert seit: 11.05.2000
Alter: 57
Beiträge: 1.684
Siegmund Freud ist zur Zeit noch ein unbeschriebenes Blatt (Renommeepunkte ungefähr beim Startwert +20)
Aufruf zu zivilem Ungehorsam

Die neue Zählweise erzürnt die Tischtennis-Basis

Von Markus Maximilian Pohl (Berliner Zeitung: 14./15. Juli 2001)

BERLIN, 13. Juli. Christian Kunath spielt seit einem Vierteljahrhundert leidenschaftlich Tischtennis. Auf eines konnte sich der 39-jährige Berliner stets verlassen: Ein Satz endet nach 21 Punkten, so unumstößlich wie ein Fußballspiel 90 Minuten dauert. Und jetzt? Ab 1. August gilt in allen deutschen Ligen als neues Satzende der elfte gewonnene Punkt. Der Aufschlagwechselt künftig nicht mehr nach dem fünften, sondern schon nach jedem zweiten Ball. "Die wollen Tischtennis kaputt machen", sagt Kunath.
In seinem Verein, dem SV Berliner Brauereien am Prenzlauer Berg, seien fast alle Spieler gegen die Regeländerung. "Einige überlegen sogar, mit anderen Vereinen eine Petition an den Verband zu schicken." Das Spiel wird kürzer und zerhackt, Aufholjagden werden unmöglich, man hat kaum mehr Zeit, sich auf den gegnerischen Aufschlag einzustellen - so die Befürchtungen. Murrend haben die Aktiven in den unteren Ligen eben erst hingenommen, dass nach der internationalen Elite nun auch sie mit größeren, langsameren Bällen spielen müssen. Statt bisher 38 haben die Zelluloidkugeln ab der neuen Saison einen Durchmesser von 40 Millimeter. Und nun das Ende der 21.

Senile, alte Männer

Es ist eine Revolution von oben: Auf Betreiben seines reformfreudigen Präsidenten Adham Sharara beschloss der Tischtennis-Weltverband Ende April in Osaka mit 104:7 Stimmen die neue Zählweise. Als Ausgleich für die Verkürzung auf elf Punkte wird künftig auf drei, bei großen Turnieren auf vier Gewinnsätze gespielt. Die Funktionäre erhoffen sich dadurch mehr Entscheidungssituationen, mehr Dramatik in den Spielen. Zusammen mit den langsameren Bällen soll das den Sport für Fernsehübertragungen interessanter machen.
Doch schon in Osaka gab es warnende Stimmen: "Zu viele Reformen sind gefährlich", sagt etwa Jan-Ove Waldner, der schwedische Olympiasieger. "Erst passiert 30, 40 Jahre gar nichts, dann führen sie plötzlich den neuen Ball ein - und jetzt so etwas. Ich denke, manchmal wissen sie nicht, was sie tun." Dennoch setzte der Deutsche Tischtennisbund (DTTB) das Regelwerk am 10. Juni nach einer turbulenten Hauptversammlung national um.
Seitdem herrscht in der sonst so beschaulichen Tischtennisgemeinde Aufruhr. Die Landesverbände berichten von wütenden Anrufen erregter Spieler. In Diskussionsforen im Internet, zum Beispiel unter www.tt-news.de , kursieren Aufrufe zum zivilen Ungehorsam: "Entweder weiterhin einfach bis 21 spielen. Oder antreten und alle Spieler verletzen sich beim Einspielen", empfiehlt ein Nutzer mit dem Pseudonym Jaskula . "Ich kann nicht damit leben, dass senile, alte Männer uns sagen, wie wir zukünftig spielen sollen." EinHerbert Pilch ruft gar zu einer "Tischtennis-Intifada" auf.
"Proteste einer sehr emotionalisierten Minderheit" nennt DTTB-Sprecher Manfred Schillings das. In den Reihen der 700 000 organisierten deutschen Tischtennisspieler gebe es auch viele positiven Stimmen, aber die Gegner meldeten sich natürlich lauter zu Wort. Schillings verteidigt die Reform als "zeitgemäßen Schritt". Er erhofft sich eine "Attraktivitätssteigerung, um das zu Unrecht hausbackene Image unseres Sports zu korrigieren".
Beim Berliner Tischtennisverband sieht man die Dinge Skeptischer. "Ich hätte mir mehr Aufklärungsarbeit im Vorfeld gewünscht", sagt Präsident Jörg Dampke. Er sieht "großen Unmut" unter den Berliner Aktiven. Auf einem Verbandstag Ende Mai hatten zwei Drittel der Deligierten gegen die Einführung der 11-Punkte-Sätze gestimmt. Doch nachdem die Entscheidung international bereits gefallen war, blieb dieses Ergebnis folgenlos. Die vom DTTB unabhängigen Berliner Betriebssportler haben zwar schon angekündigt, weiter bis 21 zu spielen. Dampke rechnet aber damit, dass sich die anderen Vereine den Regeln beugen werden. Schon überlegt der Präsident, ob nicht die traditionsreiche Berliner Verbandszeitschrift "20 beide" umbenannt werden sollte.
Ruhe wird so bald nicht einkehren. Schon zur kommenden Saison steht die nächste Reform bevor: Künftig sollen durch den Körper verdeckte Aufschläge verboten werden. Ob der Reformhunger der Verbandsoberen damit gestillt ist, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Schon behaupten Lästermäuler, nächstens werde der Rundlauf auf Wettkampfebene eingeführt.
Mit Zitat antworten