Zitat von Dieter E. Zimmer
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Nun fällt es mir gar nicht schwer, eine Reihe von ganz und gar nicht originellen positiven Regeln für "gutes Deutsch" zusammenzustellen, etwa: Geh sparsam mit Wörtern um, die vielen deiner Hörer und Leser nicht bekannt sein werden. Weiche nur dann von der Schulrechtschreibung ab, wenn du sie beherrschst und weißt, was sie verlangt. Sei deutlich. Verklausuliere deine Gedanken nicht mehr als unbedingt nötig. Lass deine Sätze weder zu kurz noch zu lang geraten ‒ am besten ist ein Wechsel von mäßig langen und mäßig kurzen Sätzen. Vermeide Nominalstil. Vermeide unbeabsichtigte Wortwiederholungen. Vermeide Genitivketten. Habe ein Ohr für den wörtlichen Sinn deiner übertragenen Begriffe.
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Gutes Deutsch ist zunächst richtiges Deutsch. Auf den ersten Blick ist damit nur ein Subjektivismus durch den anderen ersetzt, denn absolute objektive Maßstäbe für die Richtigkeit eines Sprachgebrauchs gibt es nicht. Richtig ist, was jemand für richtig hält. Aber nicht jeder hält etwas anderes für richtig. Die Regeln der Sprache beruhen auf keinem himmlischen oder irdischen Dekret, aber auf einem generationenübergreifenden Konsens der Allgemeinheit. Grammatiken und Wörterbücher sind nicht das Diktat autoritärer Schulmeister. Sie sind schon lange nicht mehr präskriptiv, sie sind deskriptiv. Sie wurden sozusagen dem Sprachvolk abgelauscht.
Das Kind lernt sprechen, indem es analysiert, was es an Sprachäußerungen zu hören bekommt, Hypothesen daraus ableitet, sie anhand weiterer Äußerungen überprüft und bei der eigenen Sprachproduktion testet und immer weiter ausdifferenziert. Ohne es zu merken, lernt es ein immenses Regelwerk, das fortan seine Referenzebene bildet. Was dagegen verstößt, kommt ihm falsch vor. Eine Sprache lässt sich nur dort tradieren, wo ein allgemeiner Konsens über die Inhalte dieses weithin unbewussten Regelwerks besteht. Die Freiheit, von ihm abzuweichen, hat erst, wer es sich angeeignet hat.
Als zweites Kennzeichen von gutem Deutsch ist zu nennen: seine Angemessenheit. Angemessenes Deutsch ist relativ. Was in der einen Situation angemessen ist, ist in der anderen unangemessen. Im türkischen Gemüseladen redet man natürlich nicht wie in der Anwaltskanzlei. Der Begriff der Angemessenheit ist aber nicht so leer, wie er auf den ersten Blick aussieht. Er entzieht das "gute Deutsch" dem vagen Bereich sprachästhetischer Vorurteile und privaten Dafürhaltens. Zwar gibt es auch hier keinen absoluten objektiven Maßstab. Aber es ist auch keine bloße Geschmackssache. Es lässt sich rational und plausibel begründen.
Die wichtigste Voraussetzung für angemessenes Deutsch und gleichzeitig sein wichtigstes Merkmal ist, was ich kurzerhand "Sprachbewusstsein" nennen möchte. Ich meine damit etwas anderes als das schwammige subjektive "Sprachgefühl". Ich meine die kontrollierte Verwendung von Sprache, die Einschaltung einer bewussten Prüfinstanz zwischen Denken und Sprechen. Diese Instanz weiß, dass sich jeder Gedanke auf vielerlei Art ausdrücken lässt, sie ist sich der Sprache als Werkzeug bewusst. Ohne Sprachbewusstsein kann niemand sein Deutsch den verschiedenen Sprechsituationen anpassen. Man muss dazu das richtige, das treffendste Wort kennen und in der richtigen Millisekunde in den entstehenden Satz einfügen können, die wörtlichen von den übertragenen Bedeutungen der Wörter unterscheiden, sich der historischen und sozialen Dimensionen der Ausdrücke und der Satzmuster bewusst sein, viele Tonfälle beherrschen, die Gebrauchsspuren an Begriffen und den Wörtern dafür erkennen und berücksichtigen und auf dieser ganzen Klaviatur so souverän spielen, wie es einem gegeben ist.
Wenn aber allein Richtigkeit und Angemessenheit die Kennzeichen von gutem Deutsch wären, so wäre das Deutsch von Bild genauso gut wie das der Süddeutschen. Man braucht ein drittes Merkmal, und es liegt auf der Hand: Der "Code" von Bild ist "restringierter" als der der Süddeutschen. Die Sätze der Boulevardpresse sind kürzer und einfacher gebaut, ihre Begriffe sind schlichter, die Wörter dafür die geläufigeren, sie greift öfter zu den gängigsten Formeln, lässt dem individualisierten Ausdruck weniger Raum. Wenn das richtige und angemessene Boulevarddeutsch gut ist, dann ist das "elaborierte" Mediendeutsch besser und das Deutsch seriöser Belletristik noch besser.
Auch die Elaboriertheit ist ein relatives Kriterium, denn der Sprachgebrauch ist unbegrenzt elaborierbar, und zu viel Elaborierung wäre den meisten Situationen unangemessen. Aber es setzt einen Preis auf den individuelleren, nuancierteren Ausdruck.
Wer Sprachbewusstsein besitzt, weiß, dass die Umschreibung mit würde nicht die einzige Art ist, den Konjunktiv auszudrücken. Er weiß, wann der Genitiv und wann dessen Umschreibung mit von angemessen ist. Er weiß, dass nach den Konjunktionen weil und obwohl die Nebensatzstellung bis vor etwa dreißig Jahren in der Schriftsprache die einzige richtige war, dass sich aber seitdem, zunächst mündlich, dann aber auch schriftlich, die Hauptsatzstellung ausbreitet ‒ und er wird diese durchaus selbst gebrauchen, wenn er seinem Satz die Markierung "wie man heute sagt" geben will. Dann spricht er zwar eigentlich falsches, aber gutes Deutsch.
Er weiß, dass das Perfektpartizip von winken bis ebenfalls vor etwa dreißig Jahren hochsprachlich einzig gewinkt hieß und gewunken zunächst ein Scherz war, eine Analogie zu gestunken, aber wenn die Sprachgemeinschaft heute auf gewunken besteht, wird er sich dem nicht widersetzen ‒ warum auch, in der Sprachgeschichte hat es bei der Konjugation manchen Wechsel von Stark nach Schwach und umgekehrt gegeben.
Er weiß, dass nachfragen eigentlich intransitiv ist, dass man eigentlich nur nach etwas fragen, aber nicht etwas nachfragen kann, er weiß aber auch, dass es in der kaufmännischen Sprache immerzu transitiv gebraucht wird, und wird es, sobald er sich kaufmännisch ausdrücken möchte, ebenso machen. Es mag ihm sogar bewusst sein, dass der Jünger in der Matthäus-Passion "Ich kenne des Menschen nicht" singt und die deutsche Sprache seit Jahrhunderten eine unaufhaltsame Tendenz zum Akkusativobjekt, zur Transitivierung zu haben scheint. Er wird dieser Tendenz selbst aber nur zögernd nachgeben und die zugestimmte Maßnahme, die stattgefundene Veranstaltung, die verzichteten Pläne oder die geklagten Schmerzen nicht sagen oder schreiben, ehe er sicher ist, dass dieser Gebrauch einem mehrheitlichen Konsens entspricht.
Er wird, wo das angebracht ist, seinen Ausdruck zu differenzieren und zu nuancieren suchen. Er wird sogar falsch sprechen, wenn es der richtigen Nuance dient. Umgekehrt wird er allzu Richtiges vermeiden, wo es durch inflationären Gebrauch sinnleer geworden ist. Er hat geradezu einen Horror vor den entwerteten Floskeln und Formeln der Politik: vor Ort, im Vorfeld, ein Stück weit, ohne Alternative, verhärtete Fronten, aufeinander zugehen, davon ausgehen, keine Chance haben, mit uns nicht zu machen, den Standort voranbringen, den Menschen in den Mittelpunkt stellen, auf gleicher Augenhöhe verhandeln, seine Hausaufgaben machen, unter Druck geraten, in der Kritik stehen, angeschlagen sein, fordern und fördern, zukunftsfähige Strukturen schaffen, sich vernetzen, Verkrustungen aufbrechen ...
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Der Verlust der sprachlichen Selbstkontrolle ergibt schlechtes Deutsch. Es ist nicht nötig, jede beschönigende Umschreibung, jedes Suggestivangebot, jede ungeschickte Neuprägung, jede falsche Übersetzung zu akzeptieren und selber zu übernehmen, nur weil sie sich heute mit elektronischer Geschwindigkeit verbreiten. Wer Sprachbewusstsein besitzt, wird sich in jedem Fall sein eigenes Urteil vorbehalten. Letztlich die einzige Art, Einfluss auf den allgemeinen Sprachgebrauch zu nehmen, besteht darin, selbst nicht mitzumachen, was einem nicht einleuchtet.
Mir selber missfällt zum Beispiel die leichtfertige Preisgabe des erreichten Differenzierungsniveaus. Dass Flair, Kontrahent und Gemengelage unentwegt falsch gebraucht werden, macht die ursprüngliche Bedeutung obsolet, für die es nun fast schon kein Wort mehr gibt. Dass scheinbar und anscheinend nicht dasselbe bedeuten, ist zwar einer der alten Hüte der Sprachkritik. Trotzdem bleibt die Unterscheidung sinnvoll und notwendig.
Überhaupt all die Adverbien, die die Gewissheit einer Aussage qualifizieren: sicher, zweifellos, wohl, offenbar, augenscheinlich, angeblich, eigentlich, vorgeblich, vermutlich, mutmaßlich, vermeintlich ... Ihre spezifischen Bedeutungen sind heute stark verwischt. Es sind aber Wörter, auf die beim Hören wie beim Sprechen Verlass sein muss. Wer sie verwechselt, versteht falsch oder provoziert Missverständnisse ‒ es kann sein, dass er unwillentlich falsch informiert oder verleumdet.
Und was tun angesichts des massiven Einstroms von Internationalismen, meist Anglizismen? Sich verweigern, weil sie jedenfalls kein Deutsch sind und damit nie und nimmer "gutes Deutsch" ergeben können? Nachgeben, weil sie unsere alte Sprache aufmischen oder weil sowieso kein Kraut gegen sie gewachsen ist?
Der deutsche Fremdwortbegriff, hinter dem eine illusionäre Vorstellung von sprachrassiger Reinheit steht, führt uns in die Irre. Wir sollten endlich einsehen, dass wir ein Einwanderungsland sind und schon immer waren. Aber die Fremdwörter müssen sich grammatisch integrieren lassen! Viel von dem crazyen trendyen downgeloadeten und geupdateten Material ist kaum integrierbar und müsste wieder outgesourct werden.
Aber willkommen sind die neuen fremden Wörter und Wendungen dort, wo sie ausdrücken, wofür Deutsch bisher gar keinen Ausdruck hatte, oder keinen so klaren und knappen (Scan, scannen); wo sie eine semantische Nuance hereinbringen, die ihre Wörterbuchübersetzung nicht hat (Team ist eben nicht dasselbe wie Mannschaft oder Belegschaft); wo sie der semantischen Differenzierung und damit Bereicherung dienen (Kid ist nicht dasselbe wie Kind); und wo sie der Sprache eine gewisse globale Beweglichkeit verleihen ‒ über dieselben Gegenstände redet man international besser mit deckungsgleichen Begriffen und womöglich gar ähnlich lautenden Wörtern. Manche dieser Wortimporte sind so notwendig und nützlich, dass man sogar über ihre mangelnde Integrationseignung hinwegsehen muss.
Wenn heute so viel katastrophal schlechtes Deutsch im Umlauf ist, hat das Gründe. Gutes Deutsch ergibt sich nicht von allein. Es ist das Ergebnis einer sehr früh einsetzenden direkten und indirekten Spracherziehung. Wo Eltern und Lehrer keinen Wert darauf legen oder gar nicht wissen, was das ist, muss man sich hinterher nicht wundern.
Auch die Sprachkritik der Laien hat ihren Sinn. Es gibt sie nicht, weil da Beckmesser ihre privaten Steckenpferde reiten, sondern weil ein öffentliches Bedürfnis danach besteht, und zwar genau nach den naiven Fragen und Antworten, mit denen sich die Linguistik nicht befassen will. Sie täte gut daran, sich nicht darüber zu mokieren, sondern die öffentliche und wertende Diskussion des Sprachgebrauchs zu akzeptieren. Sie ist nichts anderes als ein Symptom der viel beschworenen Selbstregulierung.
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